Ein mittelalterlicher Kaiser als Namenspatron?
Karl der Große wurde 800 zum ersten Kaiser des (west-)europäischen Mittelalters gekrönt. „Vater Europas“ wird er betitelt und in Aachen wird jährlich ein nach ihm benannter Preis für Verdienste um Europa und die europäische Einigung verliehen. Deutschlandweit gibt es drei Schulen, die seinen Namen tragen: Eine in Kassel, ein Gymnasium in Aachen – was Wunder, war dies ja seine Lieblingsresidenz und Grablege. Und hoch im Norden die KKS in Itzehoe. Wie kam unsere Schule zu diesem Namen?
Am 9. Mai 1910 verlieh die preußische Schulbehörde dem städtischen Realgymnasium den Namen Kaiser Karl Schule. Im gleichen Atemzug hatten die Stadtväter in Berlin angefragt, ob die Mädchenschule den Namen der aktuellen Kaiserin tragen dürfe.
Wir befinden uns im wilhelminischen Kaiserreich, dem wiedergewonnenen, zweiten Kaiserreich und darauf ist man stolz. Mit Karl dem Großen ist eine Brücke zum ersten Reich geschlagen und Karl hat einen direkten Bezug zum Raum Itzehoe, auch wenn er selbst nie vor Ort war: Vor genau 1100 Jahren hatte er nämlich seinen Grafen Egbert beauftragt, im heutigen Heiligenstedten eine Ringburg zum Schutz gegen den Dänenkönig Göttrik zu errichten. So berichten die fränkischen Reichsannalen und mehrere im 20. Jhd. getätigte archäologische Untersuchungen der „Esesfeldburg“ bestätigen dies.
Lange Zeit hat Itzehoe die Karlsburg als Keimzelle der Stadt gewertet, eine Kontinuität zur Burg der Billunger Herzöge in der Neustadt ist aber nicht gegeben.
Karl vereinte ein großes Reichsgebiet unter seiner Herrschaft und kann so Franzosen, Italienern, Deutschen und Bewohnern der Beneluxstaaten als integrative Figur dienen. Freilich war er weder Franzose oder Deutscher, sondern Franke – nicht mehr (aber auch nicht weniger). Es ist unklar, ob der „Vater Europas“ in irgendeiner Art und Weise die Vision eines politischen Europas hatte.
Überhaupt ist das Frankenreich so weit entrückt, als politisches Vorbild taugt Karl der Große nicht mehr. Und auch die Glaubenswelt des Mittelalters ist vergangen. Allerdings kann man Karls Handeln und Denkweisen nicht ohne diese Welt betrachten.
Er hatte nämlich die Vorstellung, dass sich ein so großes Reich nur regieren, ja auch ein gottgefälliges Leben nur leben ließe, wenn es eine allgemeingültige Eindeutigkeit gäbe.
Das klare, eindeutige Wort als Rechtsnorm, in grammatisch einheitlicher Form sollte im gesamten Reich das bestimmende Medium sein. Unsere Schrift geht zum Beispiel auf die karolingische Minuskel zurück. Die Bezeichnung „Times New Roman“ führt in die Irre, sie stammt aus Karls Zeit. Eindeutigkeit wurde zur Voraussetzung für richtiges und gerechtes Handeln. Aber was ist allgemeingültig? Was ist Wahrheit? Wenn man da zu einer Antwort kommt, muss diese Antwort ja direkt wieder hinterfragt und von allen Seiten beleuchtet werden, wenn sie allgemeingültig sein soll. Das ist kategoriale und dialektische Denkweise a la Aristoteles, gepaart mit anderen erkenntnistheoretischen Ansätzen, die man durchaus als Alleinstellungsmerkmal westlicher Kultur bezeichnen kann.
Karl versammelte an seinem Hof die führenden Köpfe und Denker des Reiches und vieles, was in späteren Zeiten zum Tragen kommt, ist hier schon angelegt. Die erneuerte Klosterkultur wurde erster Träger des Schulwesens. Wissenschaftler sprechen von einer ersten europäischen Renaissance.
So eignet sich Karl hervorragend als Namenspatron, man kann von ihm auch heute etwas lernen und zwar nicht wenig: Sein Bemühen, die Wahrheit zu finden war der Ansporn zu einem großen Wissensdrang, der sich auf alle Bereiche des Lebens ausdehnte. Dahinter steckt Neugier, in der auch der hinterfragende Zweifel schon keimt. Die immer neue Suche, darin war Karl wahrhaftig ein Großer und dies hat auch das heutige Europa geformt und groß gemacht.