Aktionstag: Für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima
Die Kamera zeigt ein überwuchertes Riesenrad und rostige Kinderschaukeln. Verlassene Plattenbauten, in denen die Tische noch so gedeckt sind, wie die Menschen sie Hals über Kopf vor knapp 35 Jahren verlassen haben. Mit Bildern aus Tschernobyl und Sequenzen aus dem japanischen Fukushima startete am letzten Donnerstag der Aktionstag für den 12. Jahrgang.
Das Team der Heinrich-Böll-Stiftung SH hat dafür drei Referenten mitgebracht, deren Schicksale durch die Reaktorunfälle geprägt wurden. Die Ärztin Nataliya Tereshchenko erhielt im August 1986 ihre Abordnung in das verstrahlte Gebiet, um die in der Kraftwerkruine eingesetzten Liquidatoren auf Arbeitstauglichkeit zu untersuchen. 33 Tage war sie vor Ort und trug gesundheitliche Schäden davon. Aus dem damals 56köpfigen medizinischen Team leben heute noch zwei.
„Wir arbeiteten 18 Stunden am Tag. Unsere Schutzkleidung bestand aus einer Zellstoffmaske fürs Krankenhaus und einem Arztkittel. Es gab importierte Jodtabletten, die Regierungsmitglieder bekamen, wenn sie über Tschernobyl flogen. Wir hatten sowas nicht. Weil die gemessene Strahlung an den Fenstern höher war, schoben wir die Betten im Schlafraum dichter an die Wand.“
Aus Prybjat direkt, der vier Kilometer vom Reaktor Tschernobyl entfernt gelegenen Stadt, stammt Tatjana Semenchuk, die mit den knapp 50.000 Einwohnern evakuiert wurde; erst 36 Stunden nach der Explosion, deren Ausmaß die Verantwortlichen nicht wahrhaben wollten bzw. zu verschleiern suchten.
„Weil die Wohnungen noch nicht fertig waren, mussten die evakuierten Menschen aus Prybjat in der neuen Siedlung teils zu siebt auf dem Fußboden schlafen. Ich war zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls im fünften Monat Schwanger und meine Tochter wurde schwerbehindert geboren.“
Neben diesen beiden Frauen aus der Ukraine lernen die Jugendlichen der KKS auch den japanischen Journalisten Shu kennen, der sich nach der Katastrophe von Fukushima über eine Firma als Liquidator vermitteln ließ und dort undercover das wahre Ausmaß ans Licht brachte.
„Die 40 Millionen Säcke à einer Tonne kontaminierter Erde wurden erst auf Ackerflächen und anderen Geländen zwischengelagert. Mittlerweile werden sie in ganz Japan beim Bau von Straßen oder Spielplätzen verwendet, um sie verschwinden zu lassen.“
Über Video gelingt es am Vormittag auch, den weißrussischen Wissenschaftler Alexey Nestarenko aus Minsk zuzuschalten, der über den aktuellen Stand der Verstrahlung berichtet und die interessierten Fragen der Schülerinnen und Schüler beantwortet.
Nach dem Plenum in der Aula können die Schülerinnen und Schüler in kleineren Gruppen intensivere und teils auch emotionale Gespräche mit den Gästen führen. Die Jugendlichen, die sich im Vorfeld und als Vorbereitung auf den Aktionstag in den Physikkursen darüber Gedanken gemacht haben, wie eine Mobilitätswende als Unterpunkt der Energiewende aussehen könnte, sind berührt und beeindruckt von den Gesprächen. „Hinter all den Dingen und Entscheidungen stehen menschliche Schicksale. Gut, diese so nah kennengelernt zu haben“, sagt eine Schülerin. „Und die Betroffenen sind selten die Verantwortlichen in den Regierungen.“
Den Artikel aus der Norddeutschen Rundschau vom 23.10.21 lesen Sie hier.